26. Juli 2014 Parascha Massej Numeri 33:1-36:13 Die Tragödien einordnen können

21.07.2014 11:38

Der Wochenabschnitt Massej fängt mit der Aufzählung der Stationen des Volkes Israel in der Wüste an. G-tt befielt, alle Götzen im Land Israel zu zerstören und das Land in Besitz zu nehmen. Die Grenzen des Landes Israel werden beschrieben. Die Fürsten jedes Stammes werden beauftragt, das Land zwischen den Mitgliedern des Stammes aufzuteilen. Es sollen sechs der achtundvierzig Städte als Zufluchtstätte für diejenigen, die ohne Absicht jemanden getötet haben und von der Rache der Verwandtschaft fliehen mussten, abgesondert werden. In diesen Städten darf der Bluträcher keine Rache aus üben. Frauen, die das Land von ihren Vätern vererbt haben, sollen nur die Söhne des eigenen Stammes heiraten, damit das Land innerhalb des Stammes bleibt und nicht an die andere Stämme geht.

Die Tora sagt, dass, falls jemand einen anderen unabsichtlich tötet, die nahen Verwandten des ermordeten ein Recht auf die Rache haben. Aus diesem Grund soll sich der unabsichtliche Mörder schnellstmöglich in eine der sechs Zufluchtstädte begeben, denn dort darf der Bluträcher keine Rache mehr ausüben. Der Flüchtling soll in der Zufluchtstadt verweilen, bis der Hohepriester stirbt. Danach darf er die Zufluchtsstätte verlassen, und der Bluträcher darf keine Rache mehr ausüben. Mit anderen Worten: wenn der Hohepriester noch sechzig Jahre leben würde, müsste der unabsichtliche Mörder noch ganze sechzig Jahre in der Zufluchtstätte bleiben: Falls der Hohepriester aber zwei Wochen später sterben würde, dann könnte sich auch der Mörder sofort danach frei bewegen, ohne um sein Leben fürchten zu müßen.

Der Rambam (Moses Maimonides, ca. 1135 -1204) schreibt in seinem berühmten Werk More Newuchim (der Wegweiser der Verirrten), dass es vollkommen nachvollziehbar ist, dass wenn der Hohepriester nach vierzig oder fünfzig Jahren stirbt, dass der Mörder ohne um sein Leben fürchten zu müssen, die Zufluchtsstätte verlassen kann. Denn es ist sehr viel Zeit vergangen, und die Verwandtschaft trauert nicht mehr so stark um den ermordeten. Die Gemüter sind abgekühlt, und keiner wird sich an dem Mörder rächen wollen. Doch was passiert, wenn der Hohepriester zwei Wochen nach dem unbeabsichtigten Mord stirbt? Wir haben ein Prinzip, dass ein Toter in den ersten zwölf Monaten nach seinem Ableben nicht vergessen wird. Die Familie sagt jeden Tag Kadisch für den Verstorbenen. Die Trauer und somit die Verbitterung über seinen Tod ist noch sehr frisch. Muss denn der unabsichtliche Mörder wirklich nicht um sein Leben fürchten?

Der Rambam erklärt, dass der Hohepriester die meist geehrte und geliebte Person des ganzen Volkes war. Sein Tod war eine nationale Tragödie auf höchster Ebene. Es ist die menschliche Natur, schreibt der Rambam, dass das Eintreten einer "größeren" Tragödie die psychologische Auswirkung "kleinerer" Tragödien verdrängt. Nehmen wir einmal an, dass jemand aus New York am 10. September 2001 einen kleineren Autounfall erlebte. Natürlich ärgert er sich fürchterlich darüber. Jetzt hat er für einige Zeit kein Auto mehr zur Verfügung. Muss viel für die Reparatur bezahlen. Wie kommt er jetzt zur Arbeit? Wer bringt die Kinder in die Schule? Und und und…  Der Ärger würde eine Weile anhalten. Doch meinen wir, dass er sich am 11. September, am Tag danach, als sich die nationale Tragödie in New York ereignete, noch an seinen Ärger von gestern erinnern würde? Wohl kaum, denn die größere Tragödie hat die kleinere Tragödie sofort verdrängt.

Genauso wird auch im Fall des Bluträchers, die nationale Tragödie des Todes des Hohepriesters, der der wichtigste und beliebteste Mensch des Volkes war, die persönliche Tragödie des Verlustes eines Angehörigen in den Schatten stellen. Somit wird der Drang nach Rache geringer, und der unabsichtliche Mörder kann furchtlos die Zufluchtstätte wieder verlassen. Hieraus können wir eine wichtige Lehre ziehen. Jeder von uns hat persönliche Sorgen, Probleme und Tragödien. Doch wir müssen uns dazu erziehen, dass, sobald eine nationale Tragödie eintritt, wir die eigenen Dinge zurückstellen, und uns sofort um die Gemeinschaft kümmern.